Die verschwundenen Hungerkinder oder das Loch in der Dokumentarfotografie

Essen in Öl – Foto: Michael Mahlke

 Damals

Erinnern Sie sich noch? Vor ein paar Jahren wussten wir genau, wenn es wieder um Spenden für die Dritte Welt geht, werden wir Fotos von hungernden Kindern sehen. Dies war im Fernsehen und in den Zeitungen regelmässig mit Spendenaufrufen verbunden.

Es gibt sie noch, die Fotos mit hungernden Kindern. Bei flickr kann man sie finden, bei instagram gibt es sie auch schon und wenn Sie bei google suchen und auf Bilder klicken ebenfalls. Wer Videos sucht, der wird spätestens auf youtube fündig.

Es gibt sie noch aber sie sind nicht mehr auf den vorderen Plätzen in der Medienkarawane sondern sie sind eher reine Suchergebnisse. Sie werden also nicht mehr als sozial wichtig präsentiert sondern sind das Ergebnis eigener Suche.

Veränderungen in der Medienwelt

„Dem Glamour des Elends folgt das Verschwinden der Hungerkinder: Sozial Marginalisierte werden in Kampagnen wie etwa „Deine Stimme gegen Armut“ ersetzt durch Schauspieler, Musiker, Nachrichtensprecherinnen oder Models…. Offenbar haben sich die Bildstrategien von Hilfsorganisationen geändert….“

So beschreibt Evelyn Runge in ihrem Buch „Glamour des Elends“ die Veränderungen in der Medienwelt. Sie verweist dann auf das Buch von Georg Franck mit dem Titel „Mentaler Kapitalismus“, der darauf hingewiesen hat, „wie Informationsmärkte sich zu Prominentenbörsen wandeln… Die Ausgegrenzten der Moderne sind zugleich die, die keinen Zugang zu Märkten der Aufmerksamkeit haben, vermittelt durch Medien und besonders visuelle Märkte wie die Fotografie.“

Der Markt für Fotografie, also die Vermarktung der Fotografie als bezahlte Dienstleistung, hat sich weitgehend von diesem Thema abgewandt, wenn man dieser Feststellung glauben darf.

Das fotografische Loch

Wenn Dokumentarfotografie aber mehr ist als Marktbedienung, dann ist hier ein riesiges fotografisches und soziales Loch.

Ich bin digital vorhanden also bin ich sozial vorhanden – so könnte heute die Devise lauten. Wer schon einmal erlebt hat wie im Bus alle auf ihre Handys starren und darüber die Welt wahrnehmen statt um sich herum zu schauen, der versteht, wie diese Veränderung die Welt verändert. Und wer da nicht drin ist bzw. da nicht rauskommt, der ist nicht mehr drin bzw. da. Der existiert nicht mehr im Bewusstsein seiner Zeit, wäre eine logische Schlussfolgerung.

Dabei ist die Frage nach der Wirkung oder Nicht-Wirkung von Fotografien nicht abschließend beurteilbar. Der Aufmerksamkeitswert des einzelnen Fotos hat abgenommen, aber der Stellenwert von Fotos zur visuellen Demonstration eines Themas nicht.

Wir können heute zwar 24 Stunden multimediales Multitasking veranstalten aber dabei kommt ja wahrscheinlich nichts heraus ausser geistiger Verwirrung und psychischer Erkrankung.

Leittechniken statt Leitmedien

Der Artikel impliziert aber, dass die Menschen noch Leitmedien haben. Im Internet gibt es keine Leitmedien, es gibt nur Leittechniken wie das Adressbuch = Facebook und die Suchmaschine = google. Auf diese Leittechniken Einfluss zu nehmen ist interessengeleitet.

Hungerkinder als Metapher

Soziale Fragen sind zwar auch interessengeleitet aber wir unterscheiden nicht ohne Grund zwischen Sozialsystem, Wirtschaftssystem und politischem System. Und wir wissen, dass eine Demokratie ohne Sozialstaat keine echte abendländische Demokratie mehr ist, weil Teilnahme soziale Sicherheit voraussetzt. Dies wird in vielen Teilen der Welt durch andere Interessen verhindert. Daher ist der Kampf um Gedanken so wichtig wie der Kampf um Bilder.

Und der Kampf um Bilder hat sich völlig verändert. Diese Woche war in vielen Ländern Südeuropas ein Generalstreik gegen die unsoziale Politik. Davon hat man auch hier nicht viel gesehen obwohl dies erstmals seit Jahrzehnten einen halben Kontinent umfasste. Auch diese Infos muss man suchen.

So sind die „Hungerkinder“ eine symbolhafte Umschreibung (Metapher) für die immer stärker werdenden Löcher in der Berichterstattung.

Aber wer soll eigentlich darüber berichten? In Deutschland sicherlich die GEZ bezahlten Medien an erster Stelle, weil sie einen entsprechenden Auftrag zur informatiellen Grundversorgung haben. Tun sie es? Und sonst? Offenbar scheint es sich nicht um Themen zu handeln, die viele Leser/Kunden interessieren?!

Blinde Flecken

Es gibt blinde Flecken in der Dokumentarfotografie. Das hängt mit Konventionen zusammen. Aber hier ist eine zusätzliche Dimension aufgetaucht, die das Leid nicht mehr bei den anderen sucht sondern das Leid nicht mehr sehen will.

Je größer die Probleme auf der Welt werden, desto weniger will ich davon wissen? Kann es sein, dass die Ursache für das Verschwinden von Themen die Verdrängung ist?

Dokumentarfotografie ist konkret und kann aus dem Festhalten eines Zustandes eine Geschichte machen, die zum Handeln auffordert und zu zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Dann kommen auch wieder Wörter wie „strukturelle Gewalt“ ins Spiel und wie man sie abbauen kann.

Aber es setzt auch den Anspruch voraus, darüber informiert werden zu wollen. Gibt es das noch? Vielleicht hilft mir jemand, dies alles weiterzudenken und meinen Horizont durch andere Perspektiven zu erweitern.

Das wäre schön.

Dokumentarfotografie kann mehr

Für mich zeigt bis heute ein Buch besonders gut, was Dokumentarfotografie aktuell kann, wenn sie könnte – und wenn es mehr solcher Fotos gäbe, die dann auch überall gezeigt würden.

Es ist das Buch „The eye is a lonely hunter“. Da kann man ahnen, welche Kraft in der systematischen Nutzung liegen würde. Das ist auch anders als Video. Es ist punktueller, umfassender und eindrucksvoller.

Und es ist nicht so, dass für alle Organisationen/Unternehmen solche Themen irrelevant sind. So eignen sie sich offenbar als Thema für Fotowettbewerbe, aus welchen Gründen auch immer. Ein Beispiel habe ich hier gefunden, Hintergründiges hier.

Wer hat denn jetzt eine Fehleinschätzung?

So ändert sich der Zweck solcher Fotos vielleicht sogar in sein Gegenteil. Das sollte nicht so sein. Aber hier zeigt sich dann auch, dass Fotos unterschiedlichen Zwecken dienen können.

So zeigt sich, dass Dokumentarfotografie einen sehr hohen Nutzwert haben kann – es kommt eben auf den Zweck an?!

So – so!

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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