Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie von Rudolf Stumberger


“Geschichte ist auch Bild-Geschichte.” Damit beginnt Rudolf Stumberger den ersten von zwei Bänden zur sozialdokumentarischen Fotografie. Das Buch ist wissenschaftlich geschrieben und trotzdem lesbar. Das ist nicht selbstverständlich und sollte daher nicht unerwähnt bleiben.

Und es zeigt viele Dinge auf, die wohl fast niemand, der die Bücher nicht gelesen hat, so umfassend und systematisch kennt. Nun ist der Zeitgeist nicht unbedingt für diese Art der Fotografie geeignet.

Hinzu kommt: “Fotografen bedienen sich kaum soziologischer Theorien und der soziologischen Begriffswelt, um ihre Abbildungsprojekte ideologisch zu unterfüttern. Meist werden diese Projekte von einer impliziten, den Fotografen kaum bewussten und nicht thematisierten Ideologie getragen. “Ein Bild sagt mehr als tausend Worte”, lautet dann die Begründung für diese intellektuelle Blindheit. Andererseits nutzen Soziologen in der Regel kaum das Medium Fotografie, der visuelle Gehalt eines Bildes scheint ihnen nicht wissenschaftlich genug fassbar zu sein.”

So führt uns der Autor langsam auf den Weg, um einen Ansatz immer wieder theoretisch zu reflektieren, der als “visuelle Soziologie” dabei ist, sich zu etablieren. Dabei geht es Rudolf Stumberger nicht nur um Geschichten im Bild sondern zugleich um die Geschichte des Bildes, das da gerade etwas zeigt.

Da man nicht nicht kommunizieren kann, ist das Objekt des Fotografen zugleich immer in einer Beziehung mit dem Fotografen und dieser Zusammenhang spielt immer eine Rolle. Stumberger dringt dann wirklich in alle Tiefen vor, die es zu diesem Thema geben kann.

Er zeigt den Zusammenhang zwischen sozialer Perspektive und verdecktem Hintergrund auf: “Dem Gauner ist das Gerichtsgebäude ein anderes Ding als dem Richter, dem Arbeiter die Fabrik ein anderes Ding als dem Manager.”

Und er zeigt, dass Bilder überhaupt erst in der sozialen Sphäre eine Bedeutung gewinnen und diese variiert: “Der Weg des Bildes in die öffentliche Sphäre ist der Weg des Bildes in die verschiedenen gesellschaftlichen Felder wie dem ästhetischen Feld des Kunstmarktes, dem journalistischen oder dem politischen Feld. In ihnen herrschen bestimmte Spielregeln und eigene Wertmaßstäbe, agieren eigene Institutionen und spezifische Gruppen.”

Er nennt dann sechs Kriterien, um fotografische Projekte einzuordnen und untersucht im ersten Band die europäisch-amerikanische Entwicklung dieser Fotografie.

Dabei geht er detailliert auf Lewis W. Hine, den New Deal, Walker Evans und Dorothea Lang, russische Ansätze mit Rodtschenko, El Lissitzky, deutsche Vertreter wie Walter Ballhause, August Sander und viele mehr ein. Stumberger zeigt die Zeit von 1900 bis 1945 auf. Dieser erste Band wurde als Habilitation konzipiert.

Der neu erschienene zweite Band, der die Zeit von 1945 bis 2000 untersucht, ist ebenso tief und gut konzipiert. “Die Nachkriegszeit bis hin zur Mitte der 1970er Jahre – die Ölkrise 1973 markierte den Wendepunkt in der wirtschaftlichen, politischen und sozialpolitischen Entwicklung – wird von Historikern auch als das “Goldene Zeitalter” bezeichnet… Diese Zeit lässt sich auch so charakterisieren: Als eine Zeit, in der zum ersten Mal für all die körperlich schwere, oft gesundheitsbelastende, oft monotone und einseitige, in Sonn-, Feiertags- und Nachtschichten und am Fließband erbrachte Arbeit ein vernünftiger Lohn gezahlt wurde, der mehr erlaubte, als das bloße kümmerliche Überleben.”

Hatte Stumberger im ersten Band noch darauf hingewiesen, dass die sozialdokumentarische Fotografie in der ersten Hälfte des 20. Jhdt. “Teil eines umfassenden Prozesses der Visualisierung von Welt” war, so zeigt er im 2. Band den Wandel.

Chargesheimer, Doisneau, Ronis, Eugene W. Smith, William Klein, Diane Arbus, Garry Winogrand, Lee Fridlander, Milton Rogovin und viele andere werden dort mit ihrem Ansatz dargestellt.

Stumberger fasst dies so zusammen: “Demgegenüber ist die sozialdokumentarische Fotografie der Nachkriegszeit in überwiegendem Maße das Werk von einzelnen Individuen… Der Blick dieser Nachkriegsfotografen ist nicht mehr wie in den 1930er Jahren durch eine politisch eingebettete und ausgearbeitete Ideologie bestimmt.”

Im ersten Band hatte Stumberger Roland Günter zitiert, der schrieb: ”Sozialfotografie ist die fotografische Erfassung der sozialen Realität.”

Diese Begrifflichkeit ist deshalb so interessant, weil diese Art der Fotografie “engagiert, parteilich, interessengeleitet” ist. Stumberger zeigt sehr detailliert auf, wie dies in den 1970er Jahren zum “Hinüberwechseln der Fotografie in das Feld der Kunst” führt.

Für ihn sind Bernd und Hilla Becher das personifizierte Symbol für diese Veränderung. “Sie stehen nicht nur für die Verschiebung der Dokumentarfotografie hinein in den Bereich der Kunst, sondern ihre Motive zeigen zugleich die Wahrzeichen einer mittlerweile untergegangenen industriellen Epoche.”

Es folgt eine sehr lesenswerte Darstellung. Er untersucht Robert Adams, Nicholas Nixon, Stephen Shore und andere und dann kommt der Satz: “Das Eintrittsbillet in die Kunst heißt dabei Interesselosigkeit.”

Und einige Zeit später lesen wir: “In dieser Interesselosigkeit schwebt auch jene dokumentarische Fotografie im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts, die sich oft mit Großbildkameras und in großformatigen Fotografien in Tradition der Neuen Sachlichkeit aus den 1920er Jahren der Welt zuwendet. Ist die soziale Welt eine Welt der Interessen, Urteile und Bedeutungen, so ist die Welt dieser Dokumentarfotografie die der kühlen Distanz und der technisch objektiven leidenschaftslosen Darstellung der Dinge.”

So ist auf einmal auch der Unterschied zwischen interesseloser dokumentarischer Fotografie und sozialer dokumentarischer Fotografie klar. Doch damit endet dieses Buch natürlich nicht.

Ich möchte dennoch an dieser Stelle aufhören und beide Bände sehr empfehlen. Ich würde aber mit dem zweiten Band beginnen, weil er auch Bewertungskriterien für aktuelle fotografische Entwicklungen ermöglicht.

Diese Bücher sind eine Sternstunde der Fototheorie und Fotogeschichte und der eigenen Auseinandersetzung mit der Fotografie, wenn sie mehr sein soll als das Festhalten einer Familienfeier.

An mehreren Stellen in den Büchern wird auch deutlich, wie undankbar diese Art der Fotografie ist, weil man eigentlich kaum Geld damit verdienen kann und der persönliche Aufwand ziemlich hoch ist.

Man könnte sagen, sozialdokumentarische Fotografie rüttelt an den Verhältnissen und fordert zu Engagement auf, leidenschaftslose bzw.interesselose dokumentarische Fotografie hat keine Meinung. Beide Bereiche sind Teile der Dokumentarfotografie.

Genau dies macht die Fotografie zu einem Spiegelbild des Zeitgeistes. Wo Menschen zu Maschinen werden ohne Herz und Verstand, da ist dann auch die Fotografie ohne Herz und Verstand, könnte man dann denken.

Aber auch hier zeigen die beiden Bände, dass es sich um einen Prozess handelt, eben um Geschichte. Ich habe zu Beginn auf sechs Kriterien hingewiesen, die Stumberger anführt, um Fotografie gedanklich einordnen zu können. Dies ermöglicht eine sehr viel bessere Einordnung von Fotografie als dies in den meisten Medien jemals geschehen wird.

Aber man darf natürlich die Fotografie auch nicht überschätzen. Das Leitmedium Fotografie wurde durch das Leitmedium Fernsehen abgelöst und vielleicht wird es zukünftig durch das Internet gar kein Leitmedium mehr geben. Umgekehrt wurde noch nie so viel fotografiert und so viel veröffentlicht wie seit dem Siegeszug der digitalen Welt. Aber bedeutet dies überhaupt etwas?

Der Erkenntnisgewinn aus diesen beiden Büchern war für mich sehr groß. Beide Bücher beinhalten natürlich viel mehr als ich in diesem Artikel zeigen kann. Sie lohnen sich sehr.

Rudolf Stumberger

Klassen-Bilder I
Sozialdokumentarische Fotografie 1900-1945
ISBN 978-3-89669-639-7

Klassen-Bilder II
Sozialdokumentarische Fotografie 1945-2000
ISBN 978-3-86764-281-1

Abschließend noch eine Anmerkung. Ich habe bewußt auf Seitenzahlen hinter den Zitaten verzichtet und auf die Nennung der 6 Kriterien. Nachdem ich mehrmals erlebt habe, dass Studenten oder Schüler meine Artikel und Zitate übernommen haben, um nicht selbst lesen zu müssen, verzichte ich auf die Seitenzahlen und manche wichtigen Details. Es lohnt sich nämlich, das Buch selbst zu lesen und vielleicht sind dann ganz andere Textstellen wichtig wie die, die ich rausgesucht habe.

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